Newsletter Bau November 2021

Nicht alle Anbauten sind abstandsflächenrechtlich privilegiert: Klarstellung des Begriffs des „Vorbaus“

Das Verwaltungsgericht Berlin hat die Maßstäbe dafür konkretisiert, wann es sich bei einem Anbau an eine bauliche Anlage um einen privilegierten „Vorbau“ im Sinne des § 6 Abs. 6 Nr. 2 BauO Bln handelt.

Ebenso wie Gesimse, Dachüberstände und andere vor die Außenwand vortretende Bauteile bleiben auch „Vorbauten“ bei der Bemessung der gem. § 6 Abs. 1 BauO Bln grundsätzlich einzuhaltenden Abstandsflächen außer Betracht, so dass der nach § 6 Abs. 5 BauO Bln vorgesehene Regelabstand von 0,4 bzw. 0,2 H, mindestens 3 m, unterschritten werden kann. Für Vorbauten gilt dies dabei nur, wenn sie hinsichtlich ihrer Ausmaße weitere Voraussetzungen erfüllen: Sie dürfen insgesamt nicht mehr als ein Drittel der Breite der jeweiligen Außenwand in Anspruch nehmen, nicht mehr als 1,50 m vor diese Außenwand vortreten und müssen mindestens 2 m von der gegenüberliegenden Nachbargrenze entfernt bleiben.

Nicht jeder Anbau, der diese Maße einhält, ist allerdings ein Vorbau. Das Verwaltungsgericht führte in seinem Urteil vom 22. Juli 2021 (VG 13 K 94/21) zur Auslegung dieses Begriffs nun aus, dass es sich nur dann um einen „Vorbau“ im Sinne der Norm handele, wenn dieser sich gegenüber der Außenwand, an die er angebaut ist, unterordne. Bemerkenswert ist dabei vor allem die weitere und für die Berliner Bauordnung insoweit wichtige Klarstellung, dass hiervon nicht auszugehen sei, wenn Vorbauten vorrangig dazu dienten, die Wohnfläche nennenswert zu vergrößern.

Vorbauten müssen sich funktional und quantitativ unterordnen

Das Verwaltungsgericht begründet diese Auslegung insbesondere mit der Entstehungsgeschichte der Regelung. Bereits die Vorgängerregelung der derzeit geltenden Fassung habe sich nur auf untergeordnete Anbauten bezogen. Die neue Fassung der Regelung sei hinsichtlich des Begriffs der Vorbauten in ihrem rechtlichen Gehalt unverändert geblieben. Dies zeige auch die Gesetzesbegründung der neuen Fassung, nach welcher „untergeordnete[r] Bauteile und Vorbauten in den Abstandsflächen“ geregelt werden sollten. Vorbauten könnten danach etwa „Treppen, Treppenräume und Aufzüge“ sowie „Balkone, Erker, Wintergärten und Loggien“ sein.

Daraus ergibt sich nach Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass nur funktional und quantitativ untergeordnete Vorbauten privilegiert seien. Hierfür sprächen schließlich auch der Sinn und Zweck der Regelung. Diese solle das Abstandsflächenrecht dadurch vereinfachen, dass Vorbauten, die die typischerweise durch die Abstandsflächenregelungen geschützten Belange und verfolgten Ziele – Belichtung, Belüftung, Besonnung – nur geringfügig und nicht stärker als ein vergleichbares Gebäude ohne Vorbauten beeinträchtigten, außer Acht blieben.

Wohnnutzung im privilegierten Vorbau?

Nach diesem Maßstab sei ein Vorbau nur dann funktional untergeordnet, wenn er im Wesentlichen der architektonischen Fassadengestaltung diene, nicht aber, wenn er vorrangig dazu diene, die Wohnfläche nennenswert zu vergrößern. Für Bauherren, die Anbauten planen, bedeutet dies, dass für die Frage einer möglichen abstandsflächenrechtlichen Privilegierung nicht nur eine Betrachtung anhand des äußeren Erscheinungsbildes notwendig ist. Auch die bezweckte Nutzung der durch den Anbau geschaffenen Fläche ist in den Blick zu nehmen, um zu beurteilen, ob der Anbau „funktional“ untergeordnet ist.

Eine privilegierungshindernde nennenswerte Vergrößerung der Wohnfläche dürfte etwa noch nicht gegeben sein, wenn nur eine zusätzliche Abstellkammer – ohne jede Möglichkeit, diese als Aufenthaltsraum zu nutzen – geschaffen wird. Anders wäre dies zu beurteilen, wenn Räume (nennenswert) vergrößert werden, die dem Wohnen, Essen, Schlafen etc. dienen – wobei es hier weiterer Konkretisierung bedarf, wann eine „nennenswerte“ Vergrößerung der Wohnfläche vorliegt. Bei einem Erker dürfte dies regelmäßig nicht anzunehmen sein. Anderes dürfte für größere und die Wohnfläche erheblich vergrößernde Gebäudeteile oder Anbauten gelten, die sich von den dahinterliegenden Außenwänden abheben.

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