Artenschutz: Untersuchungsmaßstab in Bauleitplanverfahren und Grenzen der Übertragung von Planfeststellungsrechtsprechung
Immer wieder stellen sich sowohl im Rahmen von Planungen kleinerer als auch größerer Bauvorhaben oder Infrastrukturprojekte Fragen zur Untersuchungstiefe des Artenschutzes. Das OVG Münster hat in einer aktuellen Entscheidung klargestellt, dass für nach dem Baugesetzbuch unterschiedliche Verfahren auch unterschiedliche Untersuchungsmaßstäbe gelten.
Der Fall
Ein Umweltverband ersuchte einstweiligen Rechtsschutz und wandte sich gegen einen Bebauungsplan mit der Begründung, dieser sei unwirksam, da artenschutzrechtliche Verbotstatbestände gem. § 44 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 3 BNatSchG missachtet und damit umweltbezogene Rechtsvorschriften verletzt werden würden. Er erachtete die durchgeführten naturschutzfachlichen Untersuchungen und Gutachten für unzureichend. Die vorgesehenen Ausgleichs- und Vermeidungsmaßnahmen seien nicht ausreichend bzw. erfüllen nicht rechtzeitig ihre Funktion.
Die Entscheidung
Das OVG Münster (Beschluss vom 06.02.2025 – 10 B 601/24.NE) lehnte den Antrag ab. Es prüfte summarisch, ob in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren die Voraussetzungen für eine einstweilige Anordnung (nach § 47 Abs. 6 VwGO) vorliegen, insbesondere ob der Bebauungsplan offensichtlich unwirksam wäre, z. B. wegen eines unüberwindlichen artenschutzrechtlichen Vollzugshindernisses. Diese Voraussetzungen sah es als nicht erfüllt an.
Zunächst stelle das Gericht klar, dass die bei Normenkontrollen entscheidende maßgebliche Sach- und Rechtslage diejenige zum Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses ist (vgl. auch § 214 Abs. 3 Satz 1 BauGB). Änderungen danach (z. B. neue Erkenntnisse zu Arten) können nur insoweit berücksichtigt werden, wie sie zum Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses bekannt oder absehbar waren.
Für die Frage, ob artenschutzrechtliche Verbotstatbestände einem Bebauungsplan entgegenstehen, verlangt das Bauleitplanverfahren nur eine überschlägige Ermittlung und Bewertung (nicht die Vollständigkeit wie in Planfeststellungsverfahren). Es muss im Einzelfall untersucht werden, welche Arten voraussichtlich betroffen sind und in welchem Umfang. Dies hat unter Einbeziehung naturschutzfachlichen Sachverstands zu erfolgen. Die Tiefe hängt vom konkreten Vorhaben und den naturräumlichen Verhältnissen ab. „Ausreichend ist jeweils eine am Maßstab praktischer Vernunft ausgerichtete Untersuchung“.
Das OVG Münster hebt ausdrücklich hervor, dass die Grundsätze des Bundesverwaltungsgerichts aus Planfeststellungsverfahren nicht oder nicht uneingeschränkt auf die Bauleitplanung übertragbar sind. Prüfkriterien oder Maßstäbe, die in Planfeststellungsverfahren gelten (z. B. besondere Erheblichkeit der Artenvorkommen, sehr hohe Anforderungen an Gutachten etc.), sind im Bebauungsplanverfahren nur dort relevant, wo die naturräumlichen Voraussetzungen und die Tragweite des Eingriffs es rechtfertigen.
Unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts betont das OVG Münster darüber hinaus, dass ein vollständiges Abbild aller Arten und Lebensräume („der wahre Bestand“) weder in der Praxis möglich noch rechtlich geboten ist. Ein Anspruch auf Aufstellung eines „lückenlosen Arteninventars“ in der Bauleitplanung besteht nicht. Verpflichtend ist, soweit erforderlich, eine überschlägige Ermittlung der Sachlage.
Detaillierte oder vertiefende Erhebungen sind dem Genehmigungs- bzw. Zulassungsverfahren vorbehalten. Eine mögliche neue Ermittlung der realen Situation hat aber auch in diesem Stadium nur zu erfolgen, sofern dies erforderlich ist.
Ob in diesem Zusammenhang erforderliche Nacherhebungen zu veranlassen sind, hat das OVG Münster mangels Entscheidungserheblichkeit offengelassen.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung des OVG Münster hält klarstellend fest, dass die vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Grundsätze zum Umfang der Behandlung des Artenschutzes nicht für alle Bauvorhaben gleich gelten oder übertragbar sind. Die teilweise gängige Praxis der Behörden, unabhängig von der Art des geltenden Planrechts (Planfeststellungsverfahren, Bebauungsplanverfahren oder sogar unbeplanter Innenbereich gem. § 34 BauGB) sowie unabhängig von dem Zeitpunkt des Vorhabenstandes (vor Inkrafttreten eines Bebauungsplans, innerhalb eines geltenden Bebauungsplangebietes oder im Baugenehmigungsverfahren) eine vollständige und alle denkbar möglichen Untersuchungen abdeckende Aufklärung zu fordern, nicht von der Rechtsprechung gedeckt ist.
Das pauschale Verlangen jedweder Untersuchungen ist praktisch weder erforderlich noch von geltendem Recht gedeckt. Stattdessen ist eine Einzelfallbetrachtung und vor allem Differenzierung zu verlangen oder wie das OVG Münster festhält: Für die Untersuchungs- und Bewertungstiefe gilt der Maßstab „praktischer Vernunft“.