Newsletter Vergabe Oktober 2020

OLG Frankfurt – Abkehr von der „Infektionstheorie“

Ein vergaberechtlich form- und fristgerecht eingereichtes Angebot ist nicht schon deshalb auszuschließen, weil es bereits zuvor formwidrig an die Vergabestelle übermittelt worden war. Mit dieser Einschätzung weicht das OLG Frankfurt von der strengen „Infektionstheorie“ des OLG Karlsruhe ab.

Kein Ausschluss eines formgerecht eingereichten Angebots nach § 57 VgV

Das OLG Frankfurt hatte sich in einer Entscheidung vom 18.02.2020 mit der Frage zu beschäftigen, ob ein über eine E-Vergabeplattform verschlüsselt und fristgerecht eingereichtes Angebot allein deshalb von der Wertung auszuschließen sei, weil es zuvor als unverschlüsselter Anhang einer E-Mail übermittelt worden war (11 Verg 7/19). Ob die Frage der Verschlüsselung überhaupt unmittelbar zu den Formerfordernissen im Sinne von § 53 i.V.m. § 57 Abs. 1 Nr. 1 VgV zählt, hat der Vergabesenat an dieser Stelle offengelassen. Ein form- und fristgerecht eingereichtes Angebot sei jedenfalls nicht allein deshalb von der Wertung auszuschließen, weil zuvor ein Angebot unverschlüsselt per E-Mail übermittelt worden war.

Orientierung am Zweck der Ausschlussgründe

Der Ausschlussgrund nach § 57 Abs. 1 VgV solle insbesondere verhindern, dass Bieter bevorteilt werden, die Frist- und Formvorgaben missachtet haben. Ihnen soll nicht mehr Zeit/Freiraum für die Angebotserstellung zur Verfügung stehen. Es solle sichergestellt werden, dass nur vergleichbare Angebote in die Wertung gelangten. Die Vergleichbarkeit der Angebote hinsichtlich Zeit- und sonstiger Formvorgaben werde jedoch nicht beeinträchtigt, wenn ein form- und fristgerecht eingegangenes Angebot in der Wertung verbleibe, welches zuvor nicht formgerecht per E-Mail übermittelt worden war.

Der Bieter erlange dadurch weder einen Zeitvorteil, noch sonstige ihn gegenüber anderen Bietern bevorteilende Spielräume.

Keine „Infektion“

Nach Ansicht des OLG führt der Formverstoß des ersten Angebotes jedenfalls nicht dazu, dass nachfolgend nicht ein Angebot unter Einhaltung der Formvorgaben wirksam hätte eingereicht werden können. Das formwirksam eingereichte zweite Angebot werdeinsbesondere nicht durch das formwidrig eingereichte erste Angebot „infiziert“. Dies gelte jedenfalls dann, wenn gewährleistet sei, dass es zu keiner vorfristigen Kenntnis vom Inhalt des per E-Mail abgegebenen Angebots kam bzw. dies ohne vernünftige Zweifel ausgeschlossen werden kann. Allein die Möglichkeit der abstrakten Gefährdung des Geheimwettbewerbs rechtfertige einen Ausschluss vom Vergabeverfahren nach Auffassung des OLG Frankfurt nicht.

Vorlagepflicht zum BGH verneint

Das OLG Frankfurt vertritt damit zwar eine von der Rechtsauffassung des OLG Karlsruhe (Beschluss vom 17.03.2017 – 15 Verg 2/17) abweichende Ansicht im Hinblick auf die Frage. Danach soll allein die mit der unverschlüsselten Übermittlung untrennbar verbundene abstrakte Gefahr zwingend zum Ausschluss führen. Trotzdem verneint das OLG Frankfurt die Pflicht zur Vorlage an den BGH mit der Begründung, der Senat weiche nicht von den tragenden Gründen in der Entscheidung des OLG Karlsruhe ab. Im von diesem Gericht entschiedenen wurde das zweite, formwirksam übermittelte Angebot erst nach Fristablauf übermittelt. Das OLG Karlsruhe habe also allein über die Frage entschieden, ob die nach Fristablauf erfolgte Übersendung geeignet war, das zunächst formwidrig eingereichte Angebot zu heilen.

Die weiteren Ausführungen des OLG Karlsruhe, wonach eine Infektion der fehlenden Verschlüsselung auch im Falle des Vorliegens zweier fristgerechter Angebote vorliege, seien über den konkreten Fall hinausgegangen und daher keine tragenden Gründe der Entscheidung.

Hinweise für die Praxis

In der Sache ist dem OLG Frankfurt zuzustimmen. Es ist unverständlich, wieso dem Bieter bei einer versehentlich fehlerhaften Übersendung des Angebots keinerlei Korrekturmöglichkeit gegeben werden sollte. Bei der postalischen Übersendung wurden derlei strenge Maßstäbe jedenfalls dann nicht angewandt, wenn die Vergabestelle dokumentiert hatte, dass die vom Bieter verschuldete vorzeitige Öffnung eines Angebots (etwa mangels hinreichender Kennzeichnung) von der Vergabestelle vor Kenntnisnahme des Inhalts bemerkt und das Angebot wieder verschlossen wurde.

Zweifelhaft ist allerdings die Begründung zur Verneinung einer Vorlagepflicht. Es wäre sehr zu begrüßen gewesen, wenn für diese – praktisch bedeutsame – Konstellation eine bundeseinheitliche Anwendung der vergaberechtlichen Bestimmungen herbeigeführt worden wäre. Mit der Entscheidung des OLG Frankfurt ist jedenfalls für die hessischen Vergabestellen ein sachgerechter Lösungsweg aufgezeigt worden.

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